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Erinnerungen an die Zukunft. Eine Recherche.

Erinnerungen an die Zukunft. Eine Recherche.

Julius Bettingen veröffentlichte 1865 seine „Geschichte der Stadt St. Wendel“; sie erschien als Fortsetzungsgeschichte in einer örtlichen Zeitung. Viele Leser sammelten die Blätter und ließen sie nach Veröffentlichung des letzten Teils privat binden. Was viele nicht wissen – das war nur der erste von zwei Teilen. Der zweite wurde auch veröffentlicht, aber erst 1993. Während es im ersten Teil um die lokale Geschichte unserer Stadt bis in die späte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ging, beschäftigte sich der zweite Teil mit den Personen, die hier lebten.

Dieser zweite Teil existierte bis zum Ende des 20ten Jahrhunderts nur als Handschrift, die in der Stadtbibliothek Saarbrücken im Bestand des Historischen Vereins für die Saargegend aufbewahrt wird. Dort grub ihn anfangs der 1990er jemand aus, ließ eine Fotokopie davon anfertigen und übergab diese an Heribert Catrein, den Leiter des Stadtarchivs St. Wendel. Der fand in Franz Josef Bruch einen Förderer eines Projekts, in dem der bis dahin relativ unbekannte Text abgeschrieben und veröffentlicht werden sollte. Das Abschreiben übernahmen Heinrich Schwingel und Michael Landau; sie übertrugen Bettingens Handschrift in ihre eigene, die dann von einem Team von Freiwilligen mittels Computer in word erfaßt wurde [für Geeks: „Word für Windows“ (winword)]. Das Projekt zog sich etwas in die Länge, hatte seine üblichen Höhen und Tiefen und stieß auf Layout-Probleme, was zu einem ziemlichen Durcheinander im Buch führte. Deshalb wurde das Opus nur in Kleinstauflage publiziert.

Da ich an der PC-Erfassung mitgearbeitet hatte, stellte mir Herr Catrein nach Abschluß des Projekts eine Word-Datei des Textes zur Verfügung, mit der ich seitdem gerne arbeite, weil sie oft interessante Details hergibt, wenn auch Bettingen nur selten eine verwertbare Quelle angibt.

Nun arbeitete ich seit ein paar Wochen an einem längeren Artikel über die Niederweilermühle in St. Wendel, die ungefähr dort stand, wo sich heute die Post befindet, also an der Ecke Momm- in die Bahnhofstraße, aber etliche Meter tiefer.

Als ich die Bettingen-II-Datei nach „Niederweiler“ durchsuchte, fand ich diesen Eintrag über eine der Töchter des sachsen-coburgischen Steuereinnehmers Marie Dominique Victor Gand, der sich in St. Wendel als Grundstückseigentümer versuchte und dabei finanziell so übernahm, daß er schließlich „die Hand heben“ mußte, also bankrott ging.

Auf Seite 365 des Originaltextes schreibt Bettingen über diese Familie u.a.:

„Von den Töchtern des Gand heirathete eine den in Saarbrücken verstorbenen Hypothekenberechner Franz Tosetti (geb. 25. März 1801 in Köln). Eine andere, Elisabeth, den hiesigen Rothgerber und Wirth Johann Schmoll. Diese ertränkte sich gemüthskrank, 69 Jahre alt, in der Blies am 02.02.1783 an der Niederweiler Brücke morgens um 4 Uhr.“

Das interessierte mich, da es u.a. etwas über die Tiefe des Wassers an der betreffenden Stelle aussagt. Die Niederweiler Brücke überquerte die Blies unmittelbar bei der gleichnamigen Wassermühle. Ich schaute den Eintrag im Sterbebuch unserer Pfarrei nach – und fand ihn nicht. Natürlich, dachte ich, dort steht er nicht drin, denn Selbstmörder wurden im Katholischen nicht kirchlich beerdigt, sondern außerhalb der Friedhofsmauer „verscharrt“.

Aber wenn der Todesfall im Kirchenbuch nicht steht, wo hat Bettingen dann die detaillierten Angaben her?

In meinen Aufzeichnungen und Pastor Gerbers Geburts-, Heirats- und Sterbelisten suchte ich den Ehemann und fand ihn nicht. Und keine Heirat einer Gand mit irgendwem. Seltsam.

Ich schaute im Findbuch des A-Bestandes des Stadtarchivs St. Wendel nach und fand dort die Akte A192 mit dem Titel „Polizeiprotokolle des Amtes und der Stadt St. Wendel 1779 – 1783“. Ich meldete mich an und erhielt zeitnah einen Termin.

Aber irgendetwas war komisch an der Sache. Ich wußte, daß Gand – der Vater – coburgischer Beamter war, und die Coburger betrieben ihr Fürstentum Lichtenberg von 1816-1834. Aber wie konnte dann die Tochter Gands schon 1783 gestorben sein? Im Alter von 69, d.h. geboren 1713?

Marie Dominique Victor Gand ist 1787 in Trier geboren und 1833 in St. Wendel gestorben. Er war 2mal verheiratet, 1813 mit Anna Maria Goerg aus Saarbourg und um 1819 mit Karolina Stahl. Zwei Töchter erster und sechs Kinder zweiter Ehe.

Da schwante mir, daß ein Zahlendreher vorlag. Ich schaute im Standesamtsregister (liegt gegen Gebühr bei www.ancestry.com) in den Sterbeeinträgen nach und fand eine Antoinette Maria Elisabeth Gand, gestorben am 2.2.1883 in St. Wendel, Ehefrau des Gastwirts Johann Knoll (nicht Schmoll). Geboren 1813 in St. Wendel.

Damit fand ich sie auch im Sterbebuch der Pfarrei St. Wendalin – ohne Bettingens Details, dafür mit einem Beerdigungsdatum (4.2.1883). Auf den Selbstmord weist eine Abkürzung hin:

„Secunda febr. obiit (f.i.m.o.) …“ war das, was ich zuerst las, aber weder fand ich diese Abkürzung in einem meiner einschlägigen Spezialbücher (z.B. Rudolf Lenz (Herausgeber), „Abkürzungen aus Personalschriften des XVI. bis XVIII. Jahrhunderts“, erschienen im Jan Thorbecke Verlag 1993) noch im Internet (es gibt dort jede Menge Einträge über die Knetmasse „fimo“, aber nichts mit Punkten zwischen den Buchstaben).

Also schaute ich genauer und entdeckte, daß das „f“ ein „s“ sein könnte und das „o“ ein „c“. Und eingedenk der oben erwähnten katholischen Weise, mit Selbstmördern umzugehen, könnte dort stehen, daß Elisabeth an der Mauer beerdigt wurde – „sepulta in muro coemeterii“, welche lateinische Form Frau Dr. Margarete Stitz,   d i e   Expertin für Latein und knifflige Schreibstile in unserer Kante, bestätigt hat.

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Marie Dominique Victor Gand
Sohn von Johann Wilhelm Jakob Gand und Maria Anna Stahl
*  11.03.1787 Trier
+  05.09.1833 St. Wendel

oo (1) am 04.01.1813 St. Wendel
Anna Maria Goerg
Tochter von Jakob Goerg und Anna Biller
*  1794 Saarburg, Dept. de la Moselle
+  09.03.1818 St. Wendel

oo (2) am 04.03.1819 Tholey
Karolina Stahl
Tochter von Karl Stahl und Maria Risch
*  11.04.1801 Tholey.

Kinder von Marie Gand und Anna Goerg sind:

Antoinette Maria Elisabeth Gand
* 29.10.1813 St. Wendel + 02.02.1883 St. Wendel
oo am 02.06.1835 St. Wendel
Johann Knoll * am 29.09.1811 St. Wendel + 03.02.1893 St. Wendel.

Elisabeth Maria Gand
* 07.04.1815 St. Wendel.

Kinder von Marie Gand und Karolina Stahl sind:

Maria Katharina Justina Gand
* 24.07.1820 St. Wendel + 1891 – 1892 Saarbrücken
oo 10.01.1839 St. Wendel
Franz Josef Maria Karl Tosetti
* 25.03.1810 Köln + 16.11.1865 St. Johann

Theresia Rosalia Gand
* 25.02.1822 St. Wendel + 11.04.1846 St. Wendel.

Maria Luisa Gand
* 13.11.1823 St. Wendel + 08.04.1825 St. Wendel.

Charlotta Antonia Gand
* 19.01.1826 St. Wendel + 31.08.1828 St. Wendel.

Carl Wilhelm Victor Gand
* 27.10.1828 St. Wendel.

Josef Adolf Gand
* 21.01.1831 St. Wendel.

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Bei meinem Besuch im Stadtarchiv St. Wendel durchsuchte ich etliche Akten des C-Bestandes nach Bettingens Originaleintrag – sogar zweimal, also an verschiedenen Tagen nach dem Motto „nicht gefunden werden wollen ist keine Option“, und da steht auch viel Interessantes drin, aber nicht, was ich suchte:

C 1.138 Zivilstandssachen 1835 – 1889
(845 Seiten, enthält Unterlagen zu den Stichworten „Auswanderung; Beamter; Leichenschau; Militärwesen; Standesamt; Verwaltung“)

C 1.139 Zivilstandssachen 1835 – 1891
(271 Seiten, „Auswanderung; Standesamt“)

C 1.149 Beerdigung verunglückter Personen 1835 – 1903
(83 Seiten, „Bestattung; Standesamt; Sterbefall; Suizid; Unfall“)

C 2.17 Polizeiliche Untersuchungen und Berichte 1840 – 1892
(299 Seiten, „Diebstahl; Feldfrevel; Polizei; Verbrechen“

Irgendwo ist der Eintrag sicher, aber wo?

Was am Schluß noch seltsam bleibt – und den Titel des Artikels rechtfertigen mag, den ich zugegebenermaßen bei Erich von Däniken geklaut habe -, ist, daß Bettingen in seinem Manuskript 1865 einen Todesfall detailliert beschrieb, der erst 18 Jahre später geschah.

Was sich aber leicht erklären ließ, nach dem ich den Eintrag in der Kopie der Bettingen-II-Vorlage im Stadtarchiv St. Wendel nachgesehen habe: er wurde nachträglich mit anderer Hand eingetragen. Vermutlich durch die Person, die das Manuskript von Bettingen erhielt und über die es dann schlußendlich an den Historischen Verein für die Saargegend resp. in die Stadtbliothek Saarbrücken kam. Natürlich steht nicht dabei, wer das war und wann er das geschrieben und – lächerlich, danach zu fragen – wo er oder sie es her hat. Das wäre auch wirklich zu einfach.

Ich hab’s bis heute nicht gefunden.